Das Oberlandesgericht Köln hat mit einem Urteil vom 10.06.2020 (5 U 171/19) eine
bedeutsame Entscheidung getroffen.
Um was ging es?
Die beklage Patientin ließ eine prothetische Neuversorgung des Ober- und Unterkiefers durchführen. Der zahnlose Oberkiefer wurde mit einer Totalprothese mit Modellgussverstärkung versorgt. Der ebenfalls zahnlose, aber mit fünf Implantaten versorgte Unterkiefer erhielt eine Implantat-Hybridprothese mit einem Stahlsteg und einer ausgeprägten PEEK-Matrize (Rechnung ca. 9.250 Euro). Die Prothese im Unterkiefer löste von Beginn an Schmerzen beim Patienten aus. Der Zahnarzt besserte die Prothese mehrfach nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass eine Neuherstellung erforderlich sei. Die Patientin brach die Behandlung ab.
Der Sachverständige
kam in seinem schriftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Steg im
Unterkiefer im Prinzip in Ordnung sei, die bedeckende Prothese mit der PEEK-Matrize
jedoch funktionell nicht zufriedenstellend und daher erneuerungsbedürftig sei.
In zentrischer Kondylenposition lägen okklusale Vorkontakte vor und der Biss
sei partiell geöffnet. Aufgrund ästhetischer und funktionaler Gründe sei eine
Neuversorgung von Ober- und Unterkiefer nach Neuaufstellung der Zähne „sinnvoll“.
Die klagende Patientin
hat sich auf die Unbrauchbarkeit des Zahnersatzes berufen und hilfsweise mit
einem Anspruch auf Kostenerstattung für eine beabsichtigte Nachbehandlung sowie
mit einem Schmerzensgeldanspruch aufgerechnet.
Das Landegericht hat die
Zahnärztin zur Zahlung von 7.757,44 € nebst Zinsen sowie zur Erstattung
vorgerichtlicher Mahnkosten und Rechtsanwaltskosten verurteilt und die Klage im
Übrigen abgewiesen. Der Honoraranspruch der Klägerin sei nicht wegen völliger Unbrauchbarkeit des Zahnersatzes entfallen, weil dieser bei der Beklagten noch
eingegliedert sei. Der in Höhe von 9.257,44 € bestehende Honoraranspruch
sei in Höhe eines Betrages von 1.500 € infolge der hilfsweise erklärten
Aufrechnung mit einem Schmerzensgeldanspruch erloschen.
Die Entscheidung und der jur. Hintergrund
Das
Oberlandesgericht hat die Zahlungsklage vollständig abgewiesen.
Nach ständiger
Rechtsprechung kann der Vergütungsanspruch des Zahnarztes entfallen, soweit die
fehlerhaft erbrachte Leistung infolge einer Kündigung des Vertrages für den
Patienten kein Interesse mehr hat. Voraussetzung hierfür ist, dass die
zahnärztliche Leistung für den Patienten vollkommen unbrauchbar ist. Es genügt
nicht, dass sie objektiv wertlos ist, wenn der Patient sie gleichwohl nutzt.
Was ist die Neuigkeit?
Das Gericht
beschäftigt sich mit Frage, wann eine “Nutzung“ in dem benannten Sinne vorliegt
und verändert, zu Gunsten der Patienten und zu Lasten der Zahnärzte, die
Maßstäbe; dies unter Verweis auf eine eigene (unveröffentlichte) Entscheidung
aus dem Jahr 2020.
„… Eine tatsächliche Nutzung
der Versorgung, die einem Entfallen des Honoraranspruchs entgegenstehen würde,
liegt nicht vor. Tatsächliche Nutzung liegt nicht schon dann vor, wenn ein
Patient die Versorgung für einen noch so kurzen Zeitraum im Mund trägt. Eine
derartige Situation ist schlechthin unvermeidbar und würde darauf hinauslaufen,
dass eine objektive völlige Unbrauchbarkeit niemals den Honoraranspruch
entfallen lassen könnte. Tatsächliche Nutzung liegt vielmehr dann vor, wenn der
Patient die Versorgung auch tatsächlich als Versorgung nutzen will, obwohl er
eine reelle und zumutbare Möglichkeit hat, sie nicht zu nutzen. Sie liegt nach
der neueren BGH-Rechtsprechung nicht vor, wenn sie nur als Notmaßnahme zur
Vermeidung eines eventuell noch größeren Übels weiterverwendet wird (BGH aaO,
BGHZ 219, 298 ff., Rn. 29). Sie muss letztlich Ausdruck dessen sein, dass der
Patient noch ein gewisses „Interesse“ an ihr hat. Ein solches
Nutzungsinteresse, das über die Situation einer Notmaßnahme hinaus geht, wird
etwa anzunehmen sein, wenn über einen längeren Zeitraum keinerlei Anstrengungen
unternommen werden, die die ernste Absicht einer Neuversorgung erkennen lassen,
etwa die Erstellung eines Heil- und Kostenplans durch einen Nachbehandler. Es
wird ferner gegeben sein, wenn eine behauptete und womöglich zunächst auch in
die Wege geleitete Neuversorgungsabsicht über einen unverständlich langen
Zeitraum hinweg nicht ernsthaft weiterverfolgt wird (was sich zum Zeitpunkt einer
letzten mündlichen Verhandlung im Normalfall wird beurteilen lassen). Maßstab
hierfür ist das Handeln eines vernünftig denkenden Menschen, dessen Motivation
primär an seiner Gesundheit ausgerichtet ist und der von dem Willen getragen
ist, so schnell wie objektiv möglich und gesundheitlich wie rechtlich wie
wirtschaftlich zumutbar den Zustand einer brauchbaren Versorgung zu erlangen.
Letztlich werden hierfür die Umstände des einzelnen Falles eine wertende
Gesamtbetrachtung erforderlich machen. Die Beurteilung dessen, was als
tatsächliche Nutzung einzuschätzen ist und was als im Rahmen des Zumutbaren
noch zu tolerierendes zeitweiliges Belassen, wird sich einer klaren
kasuistischen Einordnung entziehen. Der vorliegende Fall gibt dem Senat auch
keinen Anlass, schon bei der Vielzahl relativ typischer Fallkonstellationen
eine genaue Grenzziehung aufzuzeigen. Allerdings neigt der Senat dazu, dem
Patienten eine den Umständen nach angemessene Frist (von wenigen Monaten) zur
Einleitung einer Beweissicherung zuzubilligen, weil ihm nicht zuzumuten ist,
seine Rechtspositionen gegenüber dem Zahnarzt von vornherein signifikant zu
verschlechtern oder ganz aufzugeben. Bis zur Vorlage einer aussagekräftigen
Begutachtung (gleichgültig, ob Privatgutachten, Kassengutachten oder
gerichtliches Gutachten) wird der Zeitraum, den das entsprechende Vorgehen
notwendigerweise benötigt, als für den Patienten unschädlich zu werten sein. An
die Unzumutbarkeit aus rein wirtschaftlichen Erwägungen dürften demgegenüber
strenge Voraussetzungen zu stellen sein. Der bloße Hinweis des Patienten, für
eine Neuversorgung fehle ihm das Geld, dürfte regelmäßig nicht ausreichen;
substantiierter Vortrag, dass trotz aller zumutbaren Anstrengungen
(einschließlich etwaiger Darlehensaufnahme) eine Neuversorgung nicht habe
angegangen werden können, wird regelmäßig zu fordern sein. Gleiches gilt für
den typischen Einwand, man habe keinen zur Nachbehandlung bereiten Zahnarzt
gefunden, solange ein Rechtsstreit noch schwebe. Soweit der Senat in früheren
Entscheidungen eine für den Patienten strengere Auffassung vertreten hat, wird
daran nicht mehr festgehalten
27 Für den hier zu beurteilenden Fall kann
von einer von Nutzungsinteresse getragenen tatsächlichen Nutzung danach nicht
ausgegangen werden. Die Patientin hat die Versorgung zu keinem Zeitpunkt
akzeptiert, hat sich sofort in die Hände eines Nachbehandlers begeben, dort
einen Kostenvoranschlag erstellen lassen, hat sofort rechtlichen Rat gesucht
und in denkbar kurzer Zeit (zweieinhalb Monate nach Behandlungsende) das
Beweisverfahren eingeleitet …. Zu keinem Zeitpunkt hat sie auch nur
andeutungsweise erkennen lassen, dass sie eventuell doch bereit wäre, die
Versorgung zu belassen. Zu jedem Zeitpunkt war vielmehr klar, dass sie zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine Neuversorgung anstrebe. Die Alternative wäre
gewesen, entweder für unbestimmte Zeit unversorgt herumzulaufen, was – dies
bedarf keiner weiteren Begründung – von ihr nicht zu fordern war, oder sich
ohne die Chance einer Beweissicherung und unter der realen Gefahr, ihre
berechtigten Ansprüche zu vertieren oder aufzugeben, die Neuversorgung
durchführen zu lassen, was ihr in der gegebenen Situation nicht zumutbar war.
…“
Auch im zu
entscheidenden Fall konnte nach Meinung des Gerichts nicht von einer von Nutzungsinteresse
getragenen tatsächlichen Nutzung der Prothetik die Rede sein.
Da auch das Verweis
auf das Nachbesserungsrecht und entsprechende Angebote der Zahnärztin nicht
trug, weil eine Weiterbehandlung aus Sicht des Gerichts unzumutbar gewesen
wäre, wurde die Klage abgewiesen.